MEINUNG | Das Hindukusch-Desaster als Lehre

Die Erwartungen an die Enquete-Kommission zum Afghanistan-Einsatz sind zurecht hoch. Gastbeitrag im Tagesspiegel, 21.11.2022 | Seite 6
Peter Beyer MdB. Fotograf: Daniel Königs.

Afghanistan aufarbeiten – mit dem übereilten Abzug der internationalen Truppen aus Afghanistan wurde der Ruf nach einer Aufarbeitung des deutschen Engagements laut. Der Deutsche Bundestag hat daraufhin zwei Gremien eingesetzt: einen parlamentarischen Untersuchungsausschuss und eine Enquete-Kommission.

Beide Gremien unterscheiden sich grundlegend in Auftrag, Arbeitsweise, Inhalten und Zielen. Während der Untersuchungsausschuss vor allem die chaotischen Abläufe des Truppenabzugs im August 2021 aufarbeiten soll, ist es der Auftrag der Enquete-Kommission, die an diesem Montag wieder tagen wird, Lehren für den vernetzten Ansatz aus den Erfahrungen des multinationalen Afghanistan-Einsatzes von 2001 bis 2021 zu ziehen. Sie ist die erste ihrer Art. Niemals zuvor beschäftigte sich eine Enquete-Kommission mit Fragen der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik. Binnen zwei Jahren soll sie zur Zukunft des sogenannten vernetzten Ansatzes am Beispiel des deutschen Engagements am Hindukusch Lehren ziehen und Empfehlungen erarbeiten. Das muss auch Vorschläge für eine Verbesserung der parlamentarischen Begleitung in den Fokus nehmen.

Oftmals wird angenommen, es ginge in der Enquete-Kommission darum, wer Verantwortung für das viel beschriebene „Scheitern am Hindukusch“ trägt, oder gar darum festzustellen, welcher Kanzler oder Minister mit welchem Parteibuch in Führungsverantwortung war, um daraus Schuldzuweisungen herzuleiten. Das ist jedoch falsch und ist insbesondere nicht vom Einsetzungsbeschluss des Bundestages gedeckt.

Die Arbeit der 24 Mitglieder, von denen zwölf ausgewiesene Experten aus Wissenschaft, Militär, Entwicklungszusammenarbeit und Friedensforschung sind, wird an Hand einer umfangreichen Evaluierung das vernetzte Handeln zivil-militärischer Akteure auf den Prüfstand stellen. Rein faktenbasiert sollen dadurch Defizite in Strukturen aufgedeckt, Schlüsselfragen der Vernetzung geklärt und Empfehlungen an Hand einer wissenschaftlichen und politischen Evaluierung erarbeitet werden.

Dafür hat das „Team Wissenschaft“ – so das Selbstverständnis des Konsensgremiums – zwei Jahre Zeit. Die Arbeitsweise, innere Struktur und die Experten sollen sicherstellen, dass die Enquete-Kommission frei von Parteipolitisierung gehalten wird. Das Gremium hat die einmalige Chance, den vernetzten Ansatz Deutschlands entscheidend mitzugestalten.

Großbritannien und nordische Staaten gehen diesen Weg schon länger, um gesellschaftliche Resilienz und politische Unabhängigkeit sicherzustellen. Der Aktionsplan Zivile Krisenprävention, Konfliktlösung und Friedenskonsolidierung (2004) und auch das Weißbuch der Sicherheitspolitik Deutschlands und zur Zukunft der Bundeswehr (2006), die als Leitdokumente gelten, zeigen die Mängel auf: Fehlende ressortübergreifende Koordinierung ist zum Hemmschuh fair interministerielles Handeln geworden. Es fehlt an gemeinsamen Lagebildern, Strategien und politischer Führung.

Um vor die Welle zu kommen, braucht es mehr als Konzepte und Ad-hoc-Zusammenarbeit. Es braucht eine übergreifende Sicherheitsstrategie, die konsequent umgesetzt und zum integralen Bestandteil deutschen sicherheitspolitischen Handelns wird. An der Einrichtung eines Nationalen Sicherheitsrats, der seit rund 20 Jahren immer wieder diskutiert wird, wird kein Weg vorbeiführen. Der Einsatz in Afghanistan führt uns nicht nur in diplomatischer, militärischer, polizeilicher, humanitärer und entwicklungsbezogener Dimension schmerzlich vor Augen, dass wir für das internationale Krisenmanagement nicht gerüstet sind. Vielmehr zeigt sich, dass die viel zu oft zu bloßen Ritualen mutierten Bundestagsdebatten anlässlich der alljährlichen Verlängerung der Auslandsmandate schlicht nicht dem stolzen Anspruch des Parlaments gerecht wird, mit der Bundeswehr eine Parlamentsarmee zu beauftragen. Das Parlament muss seiner Verantwortung Rechnung tragen, indem es zusätzlich die Entwicklung von Auslandseinsätzen fortwährend begleitet, analysiert, evaluiert und gegebenenfalls anpasst.

Um diese Aufgabe wahrzunehmen, ist ein parlamentarisches Gremium, das mit Fachpolitikern aus den Bereichen Außen, Verteidigung, Innen, Entwicklungszusammenarbeit, Nachrichtendienste und externen Experten besetzt wird, eine Möglichkeit. Denn die Struktur der Ausschussarbeit des Bundestags, die im Wesentlichen separat nebeneinander stattfindet, bildet die sicherheitspolitischen Einsatzrealitäten der Bundeswehr und die der zivilen Akteure längst nicht mehr ab.

Die Enquete-Kommission „Lehren aus Afghanistan“ weckt viele Erwartungen. Sie wird diejenigen enttäuschen, die im Abschlussbericht die Antwort auf persönliche Verantwortlichkeit suchen und eine afghanische Perspektive fordern. Es wird eine systematische, ressortübergreifende Bilanzierung sein, die sich empirischen und methodischen Herausforderungen stellen muss und einen entscheidenden Beitrag für die Reformierung der Außen- und Sicherheitspolitik sowohl auf legislativer als auch auf exekutiver Ebene leistet.

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