Die jüngsten geopolitischen Entwicklungen, insbesondere Russlands völkerrechtswidriger Angriff auf die Ukraine, haben Deutschland eindrücklich vor Augen geführt, dass eine grundlegende Überarbeitung der Außen- und Sicherheitspolitik unumgänglich ist. Die Fähigkeit, in einer zunehmend komplexen Weltlage zu agieren, verlangt eine ehrliche Auseinandersetzung mit den eigenen Kapazitäten und eine strategische Neuausrichtung. Dies ist eine zentrale Erkenntnis der Enquete-Kommission „Lehren aus Afghanistan für das zukünftige vernetzte Engagement Deutschlands“, die am Beispiel der Analyse des zwanzigjährigen Einsatzes in Afghanistan Handlungsempfehlungen und Konzepte für die Zukunft der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik formulieren soll.
Im Rahmen einer Podiumsdiskussion der Konrad-Adenauer-Stiftung erläuterten Mitglieder der Enquete-Kommission, Abgeordnete und Sachverständige, darunter Peter Beyer, Susanne Hierl, Prof. Dr. Carlo-Antonio Masala und Dr. Ellinor Zeino, unter der Moderation von Christian Wilp die gewonnenen Erkenntnisse aus der umfassenden Bestandsaufnahme des deutschen Engagements in Afghanistan.
In seiner Begrüßung machte Dr. Gerhard Wahlers, stellvertretender Generalsekretär der Konrad-Adenauer-Stiftung, die Notwendigkeit deutlich, sich von Illusionen zu lösen und sich den realen Gegebenheiten zu stellen. Dies sei eine wesentliche Voraussetzung für die Gestaltung einer realitätsnahen Außen- und Sicherheitspolitik. Peter Beyer stellte in seiner Keynote die Arbeitsweise und die Bedeutung der Enquete-Kommission für die Neuausrichtung der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik heraus. Zudem ordnete er erste Lehren und Kernbotschaften des Zwischenberichts ein.
Die aktuelle Lage in Afghanistan, geprägt von relativer Sicherheit, aber auch von tiefgreifender Perspektivlosigkeit und sozialer Exklusion, spiegele die Komplexität der internationalen Interventionen wider, so Dr. Ellinor Zeino. Halte sie doch den Bündnispartnern des NATO-Einsatz in ernüchternder Weise den Spiegel vor. Denn es war ihr Anspruch, das Land zu stabilisieren und der Bevölkerung eine demokratische Perspektive zu verschaffen, um es letztlich als Partner des Westens an der Schnittstelle zwischen Zentral- und Südasien zu festigen. In der Podiumsdiskussion wurde deutlich, dass der Einsatz in Afghanistan auf einer falschen Grundannahme fußte. Nämlich der Vision eines Staates, der auf der Legitimation der afghanischen Bevölkerung beruht und der seine Interessen aus eigener Kraft umsetzen und verteidigen kann.
Die Bestandsaufnahme und Analyse des deutschen Engagements in Afghanistan durch die Enquete-Kommission, kann als Grundstein für eine tiefgreifende Reflexion und Diskussion darüber bewertet werden, wie Deutschland zukünftig seine Effektivität erhöhen kann und Fehler nicht wiederholt. Der Bericht spricht von „strategischem Scheitern“ Deutschlands und der internationalen Partner, denn die gesteckten Ziele konnten nicht dauerhaft erreicht und auch nicht abgesichert werden. Jedoch analysierten die Experten, dass es Teilerfolge gab, die zu Verbesserungen der Infrastruktur sowie des Gesundheits- und Bildungswesen beigetragen hätten, von denen insbesondere Frauen und Mädchen profitierten. Die personellen und materiellen Ressourcen unter anderem bei zivilen Einsatzkräften und der Polizei, seien für die ambitionierten Ziele des Staatsaufbaus nicht ausreichend gewesen, und die Anpassung von Ausrüstung und Fähigkeiten an die Lage sei nicht dynamisch erfolgt.
Es sei wichtig festzuhalten, dass die zivilen und militärischen Einsatzkräfte ihren Auftrag über den gesamten Einsatz hinweg gewissenhaft ausführten und ihre jeweiligen Ziele erfüllten hätten, führten die Diskussionsteilnehmer aus. Jedoch bleibe die Erkenntnis, dass die politischen Entscheidungsträger diese Ziele nicht realistisch gesetzt beziehungsweise nicht ausreichend geprüft, koordiniert und nachgesteuert hätten. So habe in Afghanistan eine Transition in die Selbstständigkeit nie stattgefunden, vielmehr wurde in der Realität ein grundlegendes System der Abhängigkeiten geschaffen, zwischen ausländischen Gebern und den afghanischen Akteuren als Nehmern. Es sei ein Verwaltungs- und Sicherheitsapparat entstanden, der vollumfänglich von internationaler Finanzierung getragen worden sei und sich nicht zu einem selbstständig handelnden und überlebensfähigen Staat entwickeln konnte. Die Taliban konnten in der Folge Kabul nahezu gefechtslos übernehmen, als die Schutzmacht das Land verlassen hatte, so die nüchterne Analyse.
Um ein derartiges Scheitern bei einem zukünftigen Engagement Deutschlands in Krisenregionen zu verhindern, gaben die Mitglieder der Enquete-Kommission an diesem Abend einige grundlegende Botschaften den interessierten Zuhörern mit, die es in der zweiten Phase der Kommissionsarbeit auszuformulieren gelte.
Erstens solle jeder Einsatz auf realitätsnahe Ziele und Erwartungen gestützt sein, die den Eigenheiten der lokalen Kultur und Gesellschaftsstruktur gerecht werden. Daraus ergebe sich zweitens der Bedarf, Kriterien zu definieren, die zu einem ganzheitlichen, vernetzten Politikansatz beitragen, in dem entwicklungs-, außen- und sicherheitspolitische Ziele kohärent strategisch zusammenfinden.
Es brauche daher eine Struktur beziehungsweise ein übergeordnetes Gremium, das die Strategien wie auch Prozesse koordiniert und auf dessen Empfehlung politische Entscheidungen getroffen werden könnten. Gleichzeitig wurde betont, dass es parallel zu diesem Gremium einer parlamentarischen Kontrollfunktion über diese Entscheidungsprozesse bedürfe.
Weitere nicht zu unterschätzende Punkte seien: Die Etablierung einer effektiveren Krisenfrüherkennung, die Entwicklung und Nutzung integrierter Lagebilder und die Förderung institutionalisierten Lernens. Herausgestellt wurde auch die Entwicklung integrierter zivil-militärischer Strategien in Abstimmung mit lokalen Partnern und Festlegung überprüfbarer Zwischenziele, der Abbau von Ressortegoismen und die Stärkung der strategischen Bedeutung öffentlicher Kommunikation zur Förderung der Akzeptanz.
Bis Anfang 2025 hat sich die Enquete-Kommission vorgenommen, auf Basis dieser ersten, auf den Einsatz in Afghanistan bezogenen Schlussfolgerungen, im laufenden Jahr klare Handlungsempfehlungen und Kriterien zu erarbeiten, die Deutschlands vernetztes Engagement in Krisenherden in der Zukunft auf ein stabiles Grundgerüst setzen sollen.
Hierfür bietet die Arbeit der Enquete-Kommission, die die erste in der Geschichte des Deutschen Bundestages ist, die sich der Außen- und Sicherheitspolitik widmet, eine wichtige Grundlage. Eine derart systematische Befassung mit Defiziten und strukturellen Fehlern sei auch in anderen Ländern nicht selbstverständlich und könne als Ausdruck einer demokratisch-parlamentarischen Lernkultur gewertet werden.
Im Schlusswort würdigte Susanne Hierl MdB nochmals ausdrücklich die Arbeit aller militärischen wie zivilen Einsatzkräfte. Ihnen gebühre unser Dank. Das Scheitern dürfe nicht ihnen angelastet werden, sondern sei auf der strategisch-politischen Ebene zu suchen.